Gedämpftes Licht. Kein Lautsprecher rauscht. Der Kassenscanner piept leiser. Menschen atmen auf – mitten in der Stadt beginnt die „Stille Stunde“.
Die Innenstadt dröhnt. Musik strömt aus Lautsprechern, Kassen piepen, Lichtreklamen flackern. Für viele ist das Alltag. Für andere eine tägliche Überforderung. Menschen mit Autismus, Angststörungen oder sensorischer Empfindlichkeit erleben die Reize des modernen Einkaufens nicht als lebendig, sondern als lähmend.
Von Neuseeland nach Wiesbaden
Die Idee stammt ursprünglich aus Neuseeland, von einem Vater, dessen Sohn unter Autismus leidet. Heute gibt es das Konzept weltweit. In Deutschland bisher meist nur vereinzelt. Wiesbaden aber wagt mehr: Koordination, Kommunikation, Gemeinschaft. Das Ziel: ein inklusives Miteinander, das sich nicht nur in Broschüren zeigt – sondern im Alltag spürbar wird.
Wiesbaden sagt der ständigen Geräuschkulisse den Kampf an, – mit Modellcharakter: Seit dem 3. Juli halten sich mehr als 20 Geschäfte jeden Donnerstag zwischen 15 und 17 Uhr an die sogenannte „Stille Stunde“. In dieser Zeit werden Musik, Lautsprecherdurchsagen und grelles Licht reduziert. Auch Supermärkte, Warenhäuser und ein großes Einkaufszentrum machen mit. Ziel ist es, Menschen mit nicht sichtbaren Beeinträchtigungen ein barriereärmeres Einkaufserlebnis zu ermöglichen.
Inklusion trifft Innenstadtentwicklung
Was auf den ersten Blick wie eine Nischenmaßnahme wirkt, hat gesamtgesellschaftliche Dimension. Wiesbaden ist die erste Kommune bundesweit, die ein solches Projekt flächendeckend koordiniert. Initiatorin ist die Stadt gemeinsam mit dem Verein gemeinsam zusammen e.V.. Gefördert wird das Vorhaben im Rahmen des Bundesprogramms Zukunftsfähige Innenstädte und Zentren. Die Stadt will damit nicht nur Inklusion stärken, sondern auch neue Impulse für den innerstädtischen Einzelhandel setzen.
Ein leiser Aufruf zum Mitmachen
Oberbürgermeister Gert-Uwe Mende lobt die Initiative als „wichtiges Zeichen für eine vielfältige Stadtgesellschaft“. Auch Hessens Sozialministerin Heike Hofmann betont die Vorbildfunktion Wiesbadens. Bürgermeisterin und Wirtschaftsdezernentin Christiane Hinninger sieht die Stille Stunde als Chance: für mehr Rücksicht – und für eine moderne Innenstadt, die sich öffnet.
Und was sagt der Handel?
Viele Geschäfte unterstützen das Projekt aus Überzeugung. Einige ergänzen die Stille Stunde um Sitzmöglichkeiten oder Rückzugsorte. Andere beraten ihre Mitarbeitenden in Sachen Barrierefreiheit. Die Resonanz ist positiv – nicht nur bei den Betroffenen, sondern auch bei Menschen, die dem Alltag sonst kaum entfliehen können.
Die „Stille Stunde“ ist ein Pilot – aber einer mit Potenzial. Wiesbaden setzt nicht auf Aktionismus, sondern auf Aufmerksamkeit. Die Stadt zeigt: Rücksicht ist keine Einschränkung, sondern ein Gewinn. Für alle.
Symbolfoto – Stille Stunde ©2025 AI-generuert / Wiesbaden lebt!
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