Wiesbadens koloniales Erbe wird erforscht und sichtbar. Eine neue Stadtkarte füllt Straßen und Orte mit neuem Wissen – ohne moralischen Zeigefinger.
Wer durch Wiesbaden spaziert, ahnt vielleicht nicht, dass hinter mancher Straße ein düsteres Erbe steckt. Doch das ändert sich jetzt: Ein neuer Stadtplan führt zu den Spuren der Kolonialzeit, einem oft verdrängten Kapitel deutscher Geschichte. Studierende der Hochschule RheinMain haben sich in die Archive gewagt und die kolonialen Fäden, die bis heute in der Stadt spürbar sind, aufgedeckt.
Wer war Alfons Paquet
Alfons Paquet (1881–1944) war ein deutscher Journalist, Schriftsteller und Pazifist, der vor allem für seine scharfe Kritik am Kolonialismus und Militarismus bekannt wurde. Geboren in Wiesbaden, war Paquet ein weltoffener Intellektueller, der viel reiste und dadurch einen globalen Blick auf Politik und Gesellschaft entwickelte. Er besuchte unter anderem die USA, den Nahen Osten und Asien, und diese Reisen prägten seine Weltanschauung erheblich.
Die neue Karte geht weit über den typischen Fokus auf Opfer hinaus. Janna Trinemeier und Carina Sträßner, die Köpfe hinter dem Projekt, haben den Blick auf die gesamte Komplexität gerichtet: Täter, Kritiker und all jene, die das Unrecht schon damals erkannten. Der Wiesbadener Pazifist und Journalist Alfons Paquet war eine dieser kritischen Stimmen. Er prangerte die Brutalität des Kolonialismus bereits in seiner Zeit an – lange bevor es en vogue wurde.
Eine Karte, fünf Kapitel
Die Karte erzählt in fünf Abschnitten die Geschichte des Kolonialismus in Wiesbaden, von der Deutschen Kolonialgesellschaft bis hin zur Kolonialfrauen-Schule in Bad Weilbach, die Frauen auf ein Leben in den deutschen Kolonien vorbereitete. Die deutsche Kolonialgesellschaft, gegründet 1887, warb nicht nur für Expansion, sondern festigte auch rassistische Überzeugungen. Ihre Vorträge und Ausstellungen, etwa 1899 im Paulinenschlösschen, waren gut besucht. Heute wirkt das absurd – damals galt es als Bildung.
Eine ideologische Mission
Besonders kurios: Die Kolonialfrauen-Schule, die weiße Frauen darauf vorbereiten sollte, Kolonisten in Afrika zu heiraten, um Rassenmischung zu verhindern. Aus heutiger Sicht eine bizarre Mischung aus Rassismus und Frauenförderung – eine Art Gute Partie für das Empire. Und genau hier wird die Karte spannend: Sie verbindet Geschichte mit sozialen Aspekten, denn die Kolonialzeit beeinflusste auch die Entwicklung der sozialen Arbeit in Deutschland.
Wer war Joachim Nettelbeck
Joachim Nettelbeck (1738–1824) war ein deutscher Seefahrer und Abenteurer, der durch seine Tätigkeiten auf Sklavenschiffen und seine späten Autobiografien bekannt wurde. Geboren in Kolberg (heutiges Kołobrzeg, Polen), begann er als junger Mann eine Laufbahn zur See, die ihn in die Kolonialwirtschaft und den transatlantischen Sklavenhandel führte. Nach seiner Seefahrtszeit engagierte sich Nettelbeck für den preußischen Staat und wurde zu einem vehementen Befürworter der Kolonialisierung Afrikas. In Briefen an preußische Könige forderte er erfolglos die Errichtung deutscher Kolonien und Stützpunkte für den Sklavenhandel in Afrika. Er gilt als Vordenker deutscher Kolonialambitionen.
Straßennamen, Gebäude und Plätze – wie in anderen Städten gibt es auch in Wiesbaden das Bestreben, Straßen und Plätze umzubenennen. Das zu verstehen, ist nicht immer leicht. Der neue Stadtplan mit seinen Erklärungen soll auch hier ein Stück weit dazu beitragen. Etwa im Westend, wo eine Straße nach Joachim Nettelbeck benannt ist: Nettelbeck, Steuermann auf einem britischen Sklavenschiff. Seine dunkle Vergangenheit macht ihn zu einem Vorreiter der kolonialen Ideologie.
Mehr als eine Landkarte – ein Geschichtslabor
Die Karte ist kostenlos und an mehreren Stellen in Wiesbaden erhältlich, darunter die Touristinformation und das Rathaus. Mit einer Auflage von 2.000 Stück ist sie ein kleiner, aber wichtiger Beitrag, um die Vergangenheit nicht in Vergessenheit geraten zu lassen. Ein Muss für Geschichtsfans – und alle, die wissen wollen, welche Geschichten ihre Stadt wirklich erzählt.
Foto – selbst gewählter Startpunkt Alfons Paquet-Straße ©2024 Volker Watschounek
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